BLINDS

Blinds ist eine künstlerische Zusammenarbeit
von Zandra Harms und Gunilla Jähnichen.

Es ist ein Experiment, indem es darum geht den
angefangenen Gedanken der Einen zu ergänzen
oder zu widersprechen.

2019 haben sich Zandra Harms und Gunilla Jähnichen entschieden, einen Dialog in Form eines gemeinsamen Werkes zu beginnen.

Getrieben von der Frage: Was passiert mit der eigenen Arbeit, wenn sie weiteren Gedanken freigeben wird?

Die Künstlerinnen starteten mit Zeichnungen auf einem Blatt, schickten eine Sammlung los, die Sendungen kreuzten sich, mehrere Arbeiten wurden parallel bearbeitet: Eine stille Unterhaltung auf Papier, dann erweitert um die Skulptur.

Die prozesshafte Arbeitsweise veränderte sich fortlaufend mit dem Ziel, aus den verschiedenen Gedankensträngen das Werk als Ganzes zu entwickeln.

Extra für den Kunstverein Ebersberg ist eine große Wandarbeit auf Papier entstanden, die wie eine Tapete an die Wand montiert wird.

Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel

BLINDS, Katalog, 2022
mit einem Text von Sabine Elsa Müller

Manege frei!

Welche Vielfalt, welcher Übermut, was für eine springlebendige Menagerie, entstanden aus überbordender Fantasie und Fabulierlust! Dabei gibt die Beschränkung auf das kleine Format, 21 x 15 cm, immer als Hochformat zu denken, einen recht engen Rahmen vor, könnte man meinen. Aber was hier entstanden ist und immer noch entsteht, sprengt so viele Grenzen. Denn es geht ja um nichts Geringeres als eine doppelte Urheberschaft. Und das ist ein hochkomplizierter Vorgang.

Das von anderer Hand Eingebrachte ist eben gerade nicht unsichtbar, wie bei dem berühmten „Cadavre Exquis“, der angeblich von den Surrealisten erfundenen Praxis, zu mehreren nacheinander auf ein und demselben Blatt zu zeichnen, dessen bereits bezeichneten Abschnitte jeweils eingefaltet und dadurch verborgen werden. Bei der Kooperation zwischen Zandra Harms und Gunilla Jähnichen liegt der Beitrag der Künstlerfreundin offen zu Tage. Er will genau betrachtet, ja studiert, als Frage, Angebot und Anregung aufgenommen werden. Nur dass die Antwort nicht verbal erfolgt, sondern mit dem Stift oder Pinsel. Ein anderes, nämlich gestalterisches Denken ist gefordert, Intuition und Einfühlung spielen eine große Rolle. Kommt es doch darauf an, das was als eigener Ausdruck bereits entstanden ist, nicht zu überdecken, sondern aufzunehmen und gleichzeitig etwas Adäquates dazuzugeben, bis sich im Laufe des Dialogs etwas Eigenständiges herausbildet. Ein sicheres Gespür für das richtige Maßhalten ist unbedingt notwendig, um die Bildaussage bis zum entscheidenden Punkt zu verdichten und dann den richtigen Zeitpunkt für einen Abschluss zu finden. Letzteres gehört sicherlich zum Schwersten bei diesen vierhändigen Bravourstücken.

Insofern bezieht sich der Titel „Blinds“ nicht auf das, was schon da ist, sondern das, was noch kommt und vollkommen offen und nicht vorhersehbar ist. Die beiden Künstlerinnen kennen sich gut genug, um eine Ahnung davon zu haben, in welche Richtung die andere dachte, um diese Vorgabe aufzunehmen und weiterzuentwickeln, oder aber auch die Erwartung zu durchkreuzen. Dabei geben beide übereinstimmend an, dass in der Gemeinschaftsarbeit auch eine Entlastung liegt, weil die andere Künstlerin die eigenen „Fehler“ doch immer noch retten könne. Dadurch werde die Experimentierfreude angeregt, mehr spielerisches Ausprobieren gewagt, das dann in die eigene Arbeit auch wieder einfließen könne. Sowieso erscheint der Dialog mit dem Zeichenstift wie eine Fortsetzung des künstlerischen Diskurses, den die beiden seit ihrer gemeinsamen Kölner Zeit als Ateliernachbarinnen entwickelten, mit anderen Mitteln. Der Wegzug von Gunilla Jähnichen nach Berlin hatte den beiderseits geschätzten engen Austausch erschwert, und Pläne für eine gemeinsame Ausstellung rückten durch die Pandemie in weite Ferne. Insofern ist dieser ergiebige „Briefwechsel“ geradezu ein Paradebeispiel für die Überwindung äußerer Hindernisse durch den kreativen Impuls.

Wie kann man sich diese Zusammenarbeit praktisch vorstellen, gibt es Absprachen? Auf keinen Fall inhaltlicher oder formaler Art. Das Vertrauen und der Respekt untereinander, die gemeinsamen Schnittstellen ihrer künstlerischen Praxis, mehr aber noch die jeweiligen Stärken und elaborierte Eigenständigkeit genügen als Garant für das Gelingen. Wer mit einem neuen Blatt beginnt, legt lediglich fest, wo oben und unten ist. Technik, zeichnerisches oder malerisches Mittel sind völlig offen, und vielleicht kündigt sich zu Beginn nicht einmal ein bestimmtes Thema an. Mindestens zwei Elemente muss so ein Gemeinschaftswerk haben – alles andere ist frei.

Die Blätter werden in kleinen Gruppen zu etwa 20 Stück hin und hergeschickt. Wer eine der Zeichnungen als abgeschlossen erachtet, nimmt sie heraus und gibt ein neu begonnenes Blatt hinein. Bei manchen Arbeiten lässt sich gut erkennen, was zuerst, was zuletzt hinzugefügt wurde, aber selten lässt sich sagen, von wem welche Elemente stammen und wie oft sie die Strecke Köln – Berlin zurücklegten.

In den knapp zwei Jahren seit den Anfängen sind etwa 400 Werke auf dieser Basis entstanden. Bei ihrer Betrachtung eröffnet sich ein Kosmos komplexer Gefühlswelten. Da beide Künstlerinnen vorwiegend figurativ arbeiten, spielt die Narration eine tragende Rolle. Jedes Blatt ist eine eigene kleine Geschichte für sich. Genau wie im richtigen Leben wechseln sich dunkle, strahlende, lustige und sehr traurige Szenerien ab, häufiger aber noch stoßen wir auf ambivalente Stimmungsbilder mit einer bittersüßen Note. Ihre Poesie verdankt sich dem präzisen gestalterischen Zugriff. Nur die Sicherheit im Umgang mit Form und Farbe ermöglicht eine solche Offenheit in der Aussage. Der Fähigkeit, eine träumerische, oft zwischen Lachen und Weinen, abgrundtiefer Traurigkeit und spielerisch heiterer Leichtigkeit changierenden Atmosphäre „zwischen den Zeilen“ entstehen zu lassen, geht die weitreichende Beherrschung und strenge Ökonomie der Mittel voraus. Das Ungefähre wird durch die Art der Bezüge zwischen den graphischen und malerischen Elementen eingelassen, nicht durch eine ungenaue Strichführung.

In der Mehrzahl der Blätter blicken uns Menschen, Tiere, unbekannt-vertraute Wesen an, mit großen Augen oder mit einer nur verkürzt und pointiert angedeuteten, aber nicht weniger expressiven Mimik. Die Bildsprache unserer Zeit, das Formenvokabular aus Comics, Mangas und den Emojis der Sozialen Medien fließen mit ein. Aber die in solchen populären Icons bedienten Konventionen werden mit größter Lust gebrochen. Bunte Luftschlangen ranken sich um ein böses oder vielleicht auch einfach nur sehr leidendes Gesicht mit einem Mund-Nasenschutz, hinter dem sich statt einer Nase ein Rüssel verbirgt. Aggressivität ist kaum zu vermeiden, wenn es um nichts weniger als die Luft zum Atmen geht. Es ist tatsächlich alles so schlimm. Desto wichtiger und unverzichtbarer ist es, durch eine ungebrochene Kreativität solche Freiräume zu schaffen wie Gunilla Jähnichen und Zandra Harms sie uns in ihrem faszinierenden Briefwechsel eröffnet.

o.T., Wandarbeit, 2023
356 x 252 cm

Kunstverein Ebersberg

Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel
Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel
Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel

Kunstverein Osterholz-Scharnbeck, 2022

Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel
Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel
Blinds: Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Kooperation, Fotograf: Tobias Hübel
Abb. Faltblatt, Neuer Kunstverein Aschaffenburg, 2020

Ein Briefwechsel

Zandra Harms und Gunilla Jähnichen starteten einen Briefwechsel mit Zeichnungen. Grundlage war das alte Zeichenspiel, bei dem man den Teil, den man zeichnet wegknickt und der nächste dann „blind“ weiterzeichnet, im Wechsel. Es entwickelte sich weiter, sie ließen das Wegknicken und gingen dazu über, bewusst auf die Impulse der anderen einzugehen. Die Zeichnungen werden hin und her geschickt, wenn eine Künstlerin der Meinung ist, die Arbeit sei fertig, wird sie aus dem Briefwechsel raus genommen. Der Briefwechsel läuft immer weiter, bis heute.

Die Zeichnungen durchlaufen unterschiedliche Phasen, sie entwickeln sich fortlaufend. Die Künstlerinnen stoßen an Grenzen, finden neue Lösungen, nutzen neue Materialien, setzen neue Impulse. Das Ganze läuft parallel als eine Art Spiel neben der eigenen künstlerischen Arbeit. Interessant ist die Wechselwirkung in den Zeichnungen, aber auch der Einfluss auf die eigene Arbeit.

Es ist eine stille Unterhaltung auf dem Papier, ohne Zeit- oder Ergebnisdruck. Die Ergebnisse wirken leicht und humorvoll, unangestrengt. Die Künstlerinnen schätzen die Inhalte und Reaktionen der anderen. Diese Arbeitsweise fordert dazu auf, sich im Werk der anderen zu positionieren und in der Idee der anderen zu finden. Diese Prozesse sind interessant und verändern sich fortlaufend.

Jeder Umschlag, in dem die neue Arbeit steckt, wird wieder mit Spannung geöffnet.

Abb. Mixed Media auf Papier, jeweils 20 x 15 cm, 2020

Mail Art als künstlerischer Austausch: Wie in Kontakt bleiben, wenn man nicht mehr am selben Ort wohnt?
Wenn man nicht reisen kann, wie in Pandemie-Zeiten?

Die Künstlerinnen  Zandra Harms und Gunilla Jähnichen haben sich, der Kunst per Post und der Zusammenarbeit gewidmet und Werkzyklen zur Mail Art entwickelt. Mail Art war in Osteuropa während des Kalten Krieges ein Mittel der Kommunikation über Grenzen hinweg und künstlerischer Bestandteil bei On Kawara, Ray Johnson, Robert Rehfeldt.

Blinds, Zandra Harms, Gunilla Jähnichen, Siebdruck

BLINDS, 21 x 15 cm, Siebdruck, 2022

Blinds, o.T., Tusche, Aquarell auf Papier, jeweils 100 x 70 cm, 2019