Keramion

Zandra Harms
Unterschlupf am Kreisverkehr

#WIP (Work in Progress) ist eine künstlerisch-wissenschaftliche Forschungsresidenz im Keramion.
Gefördert durch die RheinEnergieStiftung Kultur.

Zur Ausstellung erscheint eine Edition und ein
Katalog, mit einem Text von Johanna Adam, Bundeskunsthalle in Bonn.

Keramion
Bonnstraße 12
50226 Frechen

 

 

Unterschlupf am Kreisverkehr
Johanna Adam

Ein Ort, der sich vollständig einem Material gewidmet hat: Das Keramion in Frechen beherbergt eine Sammlung von Keramik-Arbeiten, die weit in die Geschichte zurückreicht und gleichzeitig die künstlerische Aktualität in den Fokus rückt. Als erste Stipendiatin einer beginnenden Reihe des Keramions, die der Förderung zeitgenössischer Kunst gewidmet ist, hat die Künstlerin Zandra Harms nun für einige Wochen „Unterschlupf am Kreisverkehr“ gefunden.

Die Arbeit mit Keramik ist von bestimmten Abläufen und Prozessen bestimmt, die einer künstlerischen Praxis viel Kenntnis abverlangen, vor allem aber Experimentiergeist, Geduld und eine große Offenheit, sich den wenig berechenbaren Faktoren des Schaffensprozesses auszusetzen. In der künstlerisch-forschenden Art, in der sich Zandra Harms bereits seit vielen Jahren mit dem Material Porzellan und seinen Möglichkeiten beschäftigt, hat sie so unterschiedliche wie eigenständige Wege gefunden, die Keramik in Formen zu bringen, die erstaunlich, mitunter unmöglich wirken. Porzellane, die wie Drähte dünn und gebogen erscheinen, Figuren, die wie aus Lehm geformt wirken, oder gegossene Porzellanplatten als Bildfläche für Malereien – in diesem Spannungsfeld spiegelt sich die Vielfalt der Ausdrucksformen, die Zandra Harms in ihrer Abschlussausstellung des Stipendienaufenthalts präsentieren kann.


Gesichter und Köpfe
Schemenhaft wirken die Gesichter, Köpfe und Büsten, die als umfangreiche Serie seit 2020 entstehen. Und doch gleicht kein Kopf dem anderen, und es blitzen immer wieder individuelle Züge hervor, die es verhindern, die Formen als unspezifisch wahrzunehmen. Weiß man um die Technik, wird deutlich, in welcher Weise hier künstlerische Präzision und zeichnerische Kapazität auf Unberechenbarkeit treffen. Der Fertigungsprozess erfordert ein Vorbrennen der Platten, die als Bildgrund dienen und auf die die Metallsalze, mit denen die farbige Zeichnung stattfindet, aufgetragen werden. Es bleiben der Künstlerin nur wenige Sekunden, in denen ihr zeichnerischer Strich sichtbar bleibt, bevor das flüssige Salzpigment in der Fläche der Porzellanmasse verschwindet. Erst nach dem finalen Brennen, dem Hochbrand, wird die Zeichnung wieder sichtbar. Der Prozess verlangt der Künstlerin ungemeine Präzision und Kenntnis der Materialeigenschaften ab, außerdem hohe Konzentration und Erfahrung, um der erforderlichen Schnelligkeit gerecht zu werden. Und dennoch hat der Vorgang etwas Magisches, Wundersames, fast Geisterhaftes: Die Köpfe entstehen von rascher Hand, verschwinden umgehend wieder und manifestieren sich erst dann beständig, wenn der Prozess vollständig abgeschlossen ist. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich auf diesen Prozess einzulassen, der sich konzeptuell doch sehr von einer künstlerischen Praxis unterscheidet, die auf vollständige Kontrolle setzt. Die Werke entwickeln ein eigenes Leben, ein eigenes Wollen, in dem Moment, in dem der schöpferische Prozess einsetzt. Die Künstlerin macht diesen Anteil zum Konzept der Serie, und es ist vor diesem Hintergrund ein wichtiger Aspekt, dass es sich eben um eine Serie handelt, denn die Serialität spiegelt erst den Vielfalt der Möglichkeiten wieder, die sich durch den Spannungsbogen von Absicht und Unvorhersehbarkeit aufbietet.

Hier greift die Erfahrung, auf der die langjährige Arbeit mit der Keramik beruht. Die Diskrepanz zwischen der Vorform und dem Ergebnis in gebrannter Keramik muss durch das künstlerische Vorstellungsvermögen antizipiert werden. Es sind immer wieder Zwischenschritte, die der Prozess mit sich bringt, und die den schöpferischen Vorgang zeitlich verlangsamen. Diese Schritte bedeuten die entscheidenden Möglichkeiten, während des Prozesses zu steuern, neu oder anders zu entscheiden, Veränderungen zu provozieren. Es ist eine Rhythmik, die das Material vorgibt, und in die die Künstlerin einsteigt und darin melodisch agiert – mal einer Komposition folgend, die sie variiert, mal stärker improvisierend und experimentell. Die dabei entstehenden Werke sind oft Varianten innerhalb einer Serie, die einen Gedanken auf unterschiedliche Weise künstlerisch ausformuliert. Diese Formulierungen weisen Verwandtschaften auf, und doch bleibt jedes einzelne Werk die spezifische, individuelle Antwort.

Ketten
An die Grenzen des Materials geht Zandra Harms mit ihrer Serie der Ketten, die die Eigenschaften des Porzellans und seine mögliche Form bis aufs Äußerste ausloten. Hart und formstabil, aber dennoch fragil und unter Druck zerbrechlich scheint das Material für die ineinandergreifenden Glieder einer Kette ungeeignet. Die Kette – nicht das Schmuckstück, sondern der Gebrauchsgegenstand – wird in der Nutzung verschiedenen Belastungen ausgesetzt, für die sich die Keramik als unbrauchbar erweist. Dieser Kontrast macht die Spannung aus, die bei der Betrachtung unmittelbar spürbar ist. Es ist eine Unstimmigkeit, ein Widerspruch, den es im Moment der Wahrnehmung auszuhalten gilt. Die Farbe, die an einen hellen Hautton erinnert, verunklärt den Gegenstand zusätzlich: Ist das Material weich und warm, wie die Farbe suggeriert? Oder kalt und metallisch, wie die Form nahelegt. Was sind seine maßgeblichen Eigenschaften, und welche Wirkung überwiegt letztlich? Gelingt es uns, das zu sehen, was das Objekt tatsächlich ausmacht oder hallen die assoziierten Attribute zu stark nach?

Zelte
Der „Unterschlupf am Kreisverkehr“ – das Keramion in Frechen – war nun für einige Wochen der Arbeitsort der Künstlerin Zandra Harms. Das temporäre Dach über dem Kopf, das Zelt in seiner Form, Anmutung und Assoziationskraft, interessiert die Künstlerin bereits seit langem. Die klassische Zeltform, die einem aufgestellten Dreieck gleicht, gilt als die einfachste und zugleich stabilste geometrische Figur. Auch wenn wir eine Vielzahl verschiedenster Dächer kennen, so bleibt doch die Form des Zeltdachs die charakteristischste von allen. Es ist nicht nur die Form, die Zandra Harms hier interessiert, sondern insbesondere der Topos des Zeltes als bedingter Schutzraum. Das Zelt suggeriert ein Haus zu sein und bietet ähnlichen Raum, ähnlichen Schutz und sogar eine ähnliche Form: Und dennoch bleibt es fragil, bietet nur begrenzte Sicherheit, keine festen Wände, keine Dauerhaftigkeit. Die Materialität der dünnen Stoffhaut lässt einen besonderen Raum entstehen, ein Zwischenstadium zwischen Innen und Außen. Die transluzenten Zeltwände bieten Sichtschutz, und dennoch fällt das Licht hindurch und Schatten zeichnen sich ab. Geräusche dringen hindurch, aber erscheinen gedämpft. Diese Eigenschaften des Raumes evoziert die Künstlerin in ihrer Serie von Zelten aus Pastellkreiden. Die kräftigen Farben auf schwarzem Grund stechen hell leuchtend hervor, sind aber nie deckend und erzeugen jenen Effekt der Transluzenz, den wir im Zeltraum verspüren. Die Welt erscheint durch die Zeltwand wie ein Schattenspiel, das lediglich eine Ahnung der von der Realität vermittelt.

Schwarzer Raum
Das Thema des geschützten Raumes begegnet dem Publikum in der Ausstellung darüber hinaus in einer konkret erlebbaren Situation. Im Untergeschoss hat Zandra Harms eine räumliche Struktur geschaffen, in der sich eine spezifische Auswahl von Arbeiten aus verschiedenen Serien und Werkaspekten begegnen. Es handelt sich dabei um einen kleinen, etwa 2,50 x 2,50 m großen Kabinettraum, der wie eine Wunderkammer erscheint: Dunkel und ruhig, abgelöst von der lichtdurchfluteten Ausstellungsfläche, findet der Besucher hier einen Ort der Kontemplation. Die Künstlerin hat die Werke vor schwarze Wände gesetzt, sodass die Objekte förmlich herausleuchten aus dem dunklen, beruhigten Untergrund. Der filigrane Brustkorb aus feinen Porzellanstreifen, einer der leuchtend blauen Köpfe aus Metallsalzen auf Porzellangrund, aber auch ein Schaumstoff-Stück – ein gefundenes Restmaterial, das nun wie ein Schmuckstück erscheint, bilden einen Vielklang aus Formen und Assoziationen. Auch ein Fragment der für das Keramion so wichtigen Bartmann-Krüge, sowie eine Kopf, den die Künstlerin in Anlehnung an diese historischen Keramiken geschaffen hat, treffen hier aufeinander. Jedes Werk für sich bringt eine Erzählung in den Raum, die sich im Zusammenspiel mit den anderen Objekten zu einem neuen Geflecht verwebt. Hier werden die unterschiedlichsten Kontexte, die unterschiedlichsten Ausgangspunkte aus dem Kosmos des künstlerischen Schaffen von Zandra Harms in einem Nukleus zusammengeführt und zeichnen die gedanklichen Wege und Verbindungen nach, die in ihrem künstlerischen Denken Niederschlag gefunden haben.